BRIEF AUS DER WÜSTE
Mai/August 2010
„Ihr müsst mehr in der Bibel lesen, um zu verstehen“, sagt Arthur.
Arthur ist Christ und lebt seit fast 30 Jahren in Israel. Hier, in einer Beduinen-Oase im Negev begegne ich ihm. Er ist ein Stück verwachsen mit der Geschichte von Juden und Arabern – und er versucht zu verstehen und aus diesem Verstehen zu leben.
Es ist seine Entgegnung auf unsere mitgeteilten Wahrnehmungen und Erfahrungen während unserer Pilger-Reise durch Israel und Palästina. Wir haben unsere Einschätzungen, unsere Fragen und vielleicht etwas ‚kurzatmigen‘ Antworten.
Mir ist seine Entgegnung nachgegangen. Unsere Haltung ist angesichts der politischen Situation in Israel und Palästina durch Abgrenzung einerseits und Ansprüchen andererseits geprägt. Die vordergründige Berichterstattung in den Medien hat da einen nicht unwesentlichen Anteil.
Der Weg des ‚Schmerzes‘ ist ein gemeinsamer!
Bestenfalls gibt es ein Achselzucken – ‚Ich habe da auch keine Lösung‘ -und schlimmstenfalls gibt es einseitige Parteinahme und entsprechende Polarisierung. Da werden manche ‚Türen zugeschlagen‘.
‚Ihr müsst mehr in der Bibel lesen …‘ fordert auf, Hintergründe von Verhalten zu beleuchten. Das ist Respekt, Haltungen und Handlungen zu verstehen und schafft ‚Dialog in Augenhöhe‘. Nur so kann das von Krisen und militärischen Interventionen geschüttelte politische Israel/Palästina zum wirklich ‚Heiligen Land‘ werden.
Eine solche Haltung des ‚Dahinter-Schauens‘, steht uns auch gut an, um Verhalten von Menschen zu verstehen, die wir einfach als schwierig, vielleicht auch unzugänglich ‚einordnen‘.
Der Ausspruch würde sinngemäß lauten: ‚Ihr müsst mehr in den Lebensabläufen von Menschen lesen‘.
Das ist der Weg, sich nicht in eine ‚Schwarz-Weiß-Polarisierung‘ treiben zu lassen. Diese Haltung öffnet Türen und kann auch ‚Beziehungs-Land‘ zu einem ‚Heiligen Land‘ machen.
Wenn ihr mehr über die erwähnte Pilger-Reise erfahren möchtet: HIER!
Ich grüße Euch herzlich!
August 2010 EINE WICHTIGE LEKTION
Sensibilisiert für das Verhältnis Israel-Palästina lese ich zur Zeit ein Buch mit dem Titel ‚Es war einmal ein Land- ein Leben in Palästina‘ von Sari Nusseibeh. Daraus eine Text-Passage, die das ‚Dahinter-Schauen‘ aus einer anderen Perspektive verdeutlicht:
Eine meiner wichtigsten Lektionen über die palästinensischen Dorfbewohner war ein Ereignis, das mich mit Scham erfüllte. Als ich eines Morgens, wie immer ein wenig zu spät, die Haare zerzaust und mit unterschiedlichen Socken, nach Birseit fuhr, lief mir plötzlich eine ältere Frau in der bäuerlichen Kleidung der Gegend vors Auto, weil sie den Bus erwischen wollte, der gerade auf der anderen Straßenseite hielt. Ich fuhr nicht sehr schnell, und obwohl ich sofort auf die Bremse trat, streifte ich sie, und sie fiel mit einem dumpfen Aufschlag zu Böden.
Als ich ausstieg, um zu sehen, was ihr zugestoßen war, stand sie zum Glück schon wieder auf. Ich fragte sie, ob sie verletzt sei und ich sie ins Krankenhaus bringen solle. »Es geht mir gut«, sagte sie immer wieder, während sie sich von mir entfernte. Sie wollte unbedingt den Bus erreichen und lief rasch über die Straße. Es gelang mir gerade noch, ihr meine Karte zuzustecken, bevor sie verschwand.
Da ich nichts mehr von ihr hörte, vergaß ich den Vorfall bald wieder.
Als mein Vater drei Monate später von einer Auslandsreise zurückkehrte, rief er mich an und bat um ein Treffen. Das Erste, womit er herausplatzte, waren – grob übersetzt – die Worte: „Was zum Teufel hast du da angerichtet?“
Ich stotterte irgendetwas, denn ich wusste nicht, wovon er sprach. „Was war mit dieser alten Frau?“, wollte er wissen. Jemand aus ihrer Familie hatte Kontakt zu ihm aufgenommen.
Endlich dämmerte mir, was er meinte, und ich erklärte ihm, dass ich nicht schuld sei an dem Unfall, dass die Frau keine Verletzungen davongetragen und ich ihr alle Informationen gegeben hätte, damit sie sich bei mir melden konnte. Vater hörte zu, nickte, als verstünde er, und sagte schließlich – wieder sinngemäß übersetzt: „Dieses Mal hast du es wirklich versaut.“
Ich stand sprachlos da. Vater zu enttäuschen war stets meine größte Angst gewesen.
»Du hast das Wichtigste versäumt«, fuhr er fort. „Da du dich nicht entschuldigt hast, hast du die Ehre ihrer und unserer Familie verletzt.“
Im traditionellen palästinensischen Denken existiert das Individuum eigentlich gar nicht als solches. Wenn man etwas stiehlt oder auch nur des Diebstahls bezichtigt wird, macht sich der ganze Stamm schuldig. Er ist für den Einzelnen verantwortlich. Die Familie des Bestohlenen beziehungsweise sein Stamm hat das Recht auf Rache gegen jedes Familien- oder Stammesmitglied des Täters. Verhindert werden Rache und Blutvergießen durch eine Art Konfliktlösung: Die beiden Seiten beraumen eine Sulha an, eine Art Stammestribunal. Innerhalb von drei Tagen suchen Vermittler die Familie der betroffenen Partei auf, um ein Treffen zu vereinbaren.
Wenn jemand überfahren und getötet wird, muss der Fahrer des Wagens (oder jemand in seinem Namen), egal, ob er schuldig ist oder nicht, mit seiner Familie zur Familie des Opfers gehen, um sich zu entschuldigen und eine Entschädigung anzubieten. Dann sagt vielleicht der Vater des Opfers: »Wir möchten fünfzig Millionen Dollar, auch wenn das Leben meines Sohnes nicht mit Geld aufzuwiegen ist.« Sobald die Familie des Fahrers die Bedingungen akzeptiert, beginnt der Vater des Opfers, mit der Summe herunterzugehen. »Um Allahs willen bin ich bereit, einen Nachlass von zehn Millionen zu gewähren«; »um Mohammeds willen weitere zehn« und so weiter, bis zu einer vernünftigen Entschädigungshöhe, ja manchmal sogar, bis gar nichts mehr übrig bleibt. Bei der Sulha geht es weniger um Geld als um Ehre.
In meinem Fall fuhren wir mit einem Konvoi von hundert Familienmitgliedern zum Dorf der alten Frau, dessen Bewohner sich vollzählig zu der Zeremonie versammelt hatten. Höchst feierlich sprachen wir unsere Entschuldigung aus und boten eine Entschädigung. Genau wie Vater vorausgesagt hatte, nahm die andere Familie unsere Entschuldigung an und schlug die Entschädigung aus. Wir hatten unserer Pflicht genüge getan, und sie erwiesen uns ihren Respekt, indem sie sich weigerten, etwas anzunehmen.
Viele Jahre später erzählte ich diese Geschichte bei einem Vortrag vor israelischem Publikum. Es spielt keine Rolle, ob Sie vorsätzlich die palästinensische Flüchtlingstragödie verursacht haben, erklärte ich, die Tragödie ist da, auch wenn sie nur indirekt eine Folge Ihres Vorgehens ist. Unserem traditionellen Verständnis nach müssen Sie dazu stehen. Sie müssen kommen und sich entschuldigen. Nur auf diese Weise werden die Palästinenser spüren, dass ihre Würde anerkannt wird, und in der Lage sein zu vergeben. Wenn Sie hingegen jede Verantwortung von sich weisen, was im Übrigen historisch betrachtet absurd, ja geradezu verrückt ist, sorgen Sie damit für ewige Feindschaft – und ein niemals endendes Bedürfnis nach Rache.
Aus ‚Es war einmal ein Land – ein Leben in Palästina‘ von Sari Nusseibeh