Hintergrund-Text
Zum Leit-Wort des Jahres 2009
18 Einer von den führenden Männern fragte ihn: Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?
19 Jesus antwortete: Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott, dem Einen.
20 Du kennst doch die Gebote: Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen; ehre deinen Vater und deine Mutter!
21 Er erwiderte: Alle diese Gebote habe ich von Jugend an befolgt.
22 Als Jesus das hörte, sagte er: Eines fehlt dir noch: Verkauf alles, was du hast, verteil das Geld an die Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!
23 Der Mann aber wurde sehr traurig, als er das hörte; denn er war überaus reich.
24 Jesus sah ihn an und sagte: Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen!
25 Denn eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.
26 Die Leute, die das hörten, fragten: Wer kann dann noch gerettet werden?
27 Er erwiderte: Was für Menschen unmöglich ist, ist für Gott möglich.
28 Da sagte Petrus: Du weißt, wir haben unser Eigentum verlassen und sind dir nachgefolgt.
29 Jesus antwortete ihnen: Amen, ich sage euch: Jeder, der um des Reiches Gottes willen Haus oder Frau, Brüder, Eltern oder Kinder verlassen hat,
30 wird dafür schon in dieser Zeit das Vielfache erhalten und in der kommenden Welt das ewige Leben.
Lukas 18, 18-30
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zu
‚PLATZ-VERWEIS …‘
(Leitwort 2011)
1 Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott, der Herr, gemacht hatte. Sie sagte zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?
2 Die Frau entgegnete der Schlange: Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen;
3 nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen, und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben.
4 Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben.
5 Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.
6 Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß.
7 Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.
8 Als sie Gott, den Herrn, im Garten gegen den Tagwind einherschreiten hörten, versteckten sich Adam und seine Frau vor Gott, dem Herrn, unter den Bäumen des Gartens.
9 Gott, der Herr, rief Adam zu und sprach: Wo bist du?
10 Er antwortete: Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich.
11 Darauf fragte er: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem zu essen ich dir verboten habe?
Genesis 3, 1-11
In einfacher und bildhafter Sprache und an Hand eines typischen Beispiels aus dem Alltag stellt der Erzähler die erste Sünde und ihre verhängnisvollen Folgen dar. Die Schlange ist Sinnbild für die gefährliche Macht des Bösen und für die Hinterhältigkeit. Der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse sind Bilder für die nur Gott zukommenden Eigenschaften der Unsterblichkeit und des umfassenden Wissens, über die der Mensch nicht von sich aus verfügen kann, die Gott ihm aber unter Umständen in Zuwendung schenkt.
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8 Aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde.
9 Als er das gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf und entzog ihn ihren Blicken.
10 Während sie unverwandt ihm nach zum Himmel emporschauten, standen plötzlich zwei Männer in weißen Gewändern bei ihnen
11 und sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor? Dieser Jesus, der von euch ging und in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel hingehen sehen.
12 Dann kehrten sie vom Ölberg, der nur einen Sabbatweg von Jerusalem entfernt ist, nach Jerusalem zurück.
13 Als sie in die Stadt kamen, gingen sie in das Obergemach hinauf, wo sie nun ständig blieben: Petrus und Johannes, Jakobus und Andreas, Philippus und Thomas, Bartholomäus und Matthäus, Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Simon, der Zelot, sowie Judas, der Sohn des Jakobus.
14 Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet, zusammen mit den Frauen und mit Maria, der Mutter Jesu, und mit seinen Brüdern.
Apostelgeschichte 1, 8-14
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Brot in der Wüste
Hier in der Wüste rottete sich die ganze Gemeinde Israel gegen Mose und Aaron zusammen. Sie murrten: »Hätte der HERR uns doch getötet, als wir noch in Ägypten waren! Dort saßen wir vor vollen Fleischtöpfen und konnten uns an Brot satt essen. Aber ihr habt uns herausgeführt und in diese Wüste gebracht, damit die ganze Gemeinde verhungert!« Der HERR sagte zu Mose: »Ich werde euch Brot vom Himmel regnen lassen. Die Leute sollen vors Lager hinausgehen und so viel sammeln, wie sie für den Tag brauchen – aber nicht mehr, damit ich sehe, ob sie mir gehorchen. ……….. Am Abend kamen Wachteln und ließen sich überall im Lager nieder, und am Morgen lag rings um das Lager Tau. Als der Tau verdunstet war, blieben auf dem Wüstenboden feine Körner zurück, die aussahen wie Reif. Als die Leute von Israel es sahen, sagten sie zueinander: »Was ist denn das?« Denn sie wussten nichts damit anzufangen.
Mose aber erklärte ihnen: »Dies ist das Brot, mit dem der HERR euch am Leben erhalten wird. Und er befiehlt euch: ‚Sammelt davon, soviel ihr braucht, pro Person einen Krug voll. Jeder soll soviel sammeln, dass es für seine Familie ausreicht.’« Die Leute gingen und sammelten, die einen mehr, die andern weniger. Als sie es aber abmaßen, hatten die, die viel gesammelt hatten, nicht zuviel, und die, die wenig gesammelt hatten, nicht zuwenig. Jeder hatte gerade so viel gesammelt, wie er brauchte.
Mose sagte zu ihnen: »Niemand soll etwas davon bis zum anderen Morgen aufheben!« Einige hörten nicht auf ihn und legten etwas für den anderen Tag zurück, aber am Morgen war es voller Maden und stank. Da wurde Mose zornig, weil sie nicht auf ihn gehört hatten.
Exodus 16, 2-4 und 13-20
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zum LEIT-WORT für das Jahr 2012
PERSPEKTIV-WECHSEL
Es wird angenommen, dass Paulus durch eine tückischen Krankheit beeinträchtigt war … Er schreibt an die Gemeinde in Korinth.
2. Korinther-Brief 12, 8-10
8 Dreimal habe ich den Herrn angefleht, dass dieser Bote Satans von mir ablasse. 9 Er aber antwortete mir: Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit. Viel lieber also will ich mich meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich herabkommt. 10 Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Misshandlungen und Nöte, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.
Einheits-Übersetzung
8 Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. 9 Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne. 10 Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten, um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.
Übersetzung nach Martin Luther
Ich habe den Herrn dreimal gebeten, dass dieser Satansengel mich in Ruhe lassen soll. Da hat er mir gesagt: »Meine Gnade reicht für dich aus, denn die Kraft vollendet sich mitten in der Schwachheit!«
Deshalb will ich lieber meine Schwächen loben, damit die Kraft des Messias in mir wohnt. Deshalb freue ich mich über Schwachheiten, Misshandlungen, Verfolgungen und Ängste, die ich für den Messias erleide. Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich voller Kraft.
Übersetzung nach Roland Werner
Hintergrund-Text
KRAFTWERK RELIGION
Glutkern
Religionen sind der Glutkern oder das Herz der menschlichen Geschichte
Die Religion und Europa
Über ein kulturelles Erbe und unsere Zukunft
Von Mathias Greffrath
Europa unterwirft sich dem Islam. Zunächst in Frankreich. Dort gewinnt im Jahr 2022 ein Kandidat der Moslemischen Bruderschaft die Präsidentschaftswahlen gegen Marine LePen. Ben Abbes ist kein grimmiger Dogmatiker, sondern der sozial-konservative Absolvent einer Eliteschule. Gewählt wurde er wegen seiner radikalen Kritik der kapitalistischen Exzesse, der gottlosen Hingabe an Geld und Konsum, des hedonistischen Ich-Kults im amoklaufenden Spätkapitalismus. Seinen Wahlkampf betrieb Abbes mit einem Appell an die Werte der drei Buchreligionen, des Christentums, des Judentums, des Islam. Unter seiner Präsidentschaft beginnt ein großer moralischer Aufbruch. Der Staat fördert kleine und mittlere Unternehmen, beendet die Arbeitslosigkeit, propagiert die Rückkehr zum konservativen Familienmodell. Die Gewalt auf den Strassen findet ein plötzliches Ende, den Banken wird das Spekulieren verboten. Nackte Hintern auf Plakaten und Miniröcke auf der Strasse gehören der Vergangenheit an. Zustimmung findet Abbes für sein Programm unter Antikapitalisten und Konservativen, aber auch bei Liberalen, wie dem Professor Francois, der schon lange seine metaphysische Leere erfolglos mit Alkohol, Sex und gelegentlichen Besuchen in katholischen Kirchen bekämpfte.
Sie haben es vielleicht gemerkt: dies war eine Inhaltsangabe des Romans „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq. Seine Zukunftsvision eines religiösen und kulturellen Umbruchs ist nicht finster, nicht gewalttätig, sie imaginiert die radikale Wende einer spätkapitalistischen Gesellschaft, die von Arbeitslosigkeit und Bindungs-verlust, vom Überdruß und von Sinnverlust geprägt ist. „Eine Gesellschaft ohne Religion ist nicht überlebensfähig“, sagt Michel Houellebecq im Interview, und im Roman findet sich der Satz: „Ohne das Christentum wären die europäischen Nationen nichts mehr als ein Körper ohne Seele – Zombies.“
„Wir müssen Europa wieder eine Seele geben“, sagt auch der gläubige Katholik und Sozialist, der glühende Europäer Jacques Delors, der vor einem Vierteljahrhundert, nach dem Fall der Mauern ein europäisches Sozialjahr für alle Jugendlichen forderte, der mit großen europäischen Gemeinschaftsprojekten, wie dem Bau von Schnellbahn-trassen von Helsinki nach Athen, von Moskau nach Lissabon europäische Identifikationen schaffen wollte.
Zu Europa gehören, das war nach 1989 der Traum von Millionen in Osteuropa. Vaclav Havel, der Dissident und spätere Präsident Tschechiens hatte diesen Traum damals aufgeschrieben: ein Kontinent mit Straßen, in denen es zwei Bäcker und an jeder Ecke eine Kneipe gibt; mit einer Wirtschaft, deren Wohlstand nicht nur auf global agierenden Konzernen, sondern einem vielfältigen kreativen Mittelstand und einer gut ausgebildeten und sozial gesicherten Arbeiter-schaft ruht; mit Städten, in denen Kinder sich wohlfühlen, jeder auf eine gute Schule gehen kann und die Mieten bezahlbar sind; ein Europa mit Nationen, die ihre Eigenarten, ihre Landschaften und die Fähigkeiten ihrer Bürger pflegen.
Das ist ein Vierteljahrhundert her, aber was von dem Europa aus Havels Traum noch übrig ist, droht im Sturm der Globalisierung unterzugehen. Europa, das ist heute ein Binnenmarkt mit freiem Kapitalverkehr, mit Normen für Abgase, Agrarprodukte, Universitätsabschlüsse und vieles andere, aber die Angleichung der Sozialsysteme, der Steuergesetze, der Arbeits-bedingungen ist nicht erfolgt. Die Europäer sind ein einig Marktvolk geworden – aber der Markt ist keine Gleichheitsmaschine, sondern begünstigt die Starken. Das Parlament in Straßburg ist weniger ein gesamteuropäisch denkendes Gremium als eine Clearingstelle für nationale Interessen; in Brüssel werden die großen Entscheidungen im Machtgerangel der Staatsführer getroffen – und da setzen sich die Starken durch. Der Euro gar hat die alten Ungleichheit verschärft und neue Spaltungen erzeugt: zwischen Nord- und Südstaaten, zwischen Wachstums-regionen und abgehängten Provinzen, zwischen Gläubigerbanken und Schuldner-staaten. Ein Europa dessen Leitlinien Wachstum um jeden Preis, Rationalisierung, Privatisierung, Deregulierung, schlanke Staaten und schrumpfende Infrastrukturen sind: von den Bürgern, die dabei ihre Lebenswelt untergehen sehen, wird dieses Europa zunehmend als Bedrohung erfahren.
„Wir müssen Europa wieder eine Seele geben“. Aber worin bestünde sie denn noch, diese europäische Seele, diese kulturelle Identität? Seit einigen Jahren lautet die Formel: es ist unser gemeinsames judäo-christliches Erbe. Es ist eine Formel, die mit Vorsicht zu genießen ist. Seit der Zuwanderung aus muslimischen Ländern – wohl-gemerkt: aus den ehemaligen europäischen Kolonien – ist sie zum Ausgrenzungs-merkmal geworden – und das nicht nur bei von Zukunftsängsten geleiteten Pediga-Spaziergängern.
Und diese Formel vom judäochristlichen Europa läßt einiges aus, das den Kontinent geprägt hat: die griechische Philosophie vor allem, diese durch und durch weltliche, götterlose Suche, nach dem, was die Welt im Inneren zusammenhält. Und sie vergißt die langen Jahrhunderte, in denen der Islam das maurische Spanien und Sizilien zu einer multikulturellen Blüte brachte, Moscheen, Kirchen und Synagogen neben-einander standen: eine Zeit kultureller Vielfalt, der wir Baukunst, Algebra und die Überlieferung der griechischen Philosophie zu verdanken haben, wichtige Beiträge zu unserer Neuzeit.
Was also können wir meinen, wenn wir uns auf eine judäo-christliche Tradition berufen, die Europa geprägt hat und weiter prägen soll? Da ist zum ersten das jüdische Erbe. Die Tora ist das Gesetzbuch eines Volkes, das unter Fremdherrschaft und Klassenkonflikten litt. Gott, so sagen es die Propheten, will keine Unterdrückung. Und: „Es sollte überhaupt keine Armut unter Euch sein“, sprach der Gott Israels zu Moses und verschrieb seinem Volk alle sieben Jahre einen Schuldenerlass, damit die Unter-schiede nicht zu groß werden. Und, wichtiger fast: Nicht länger sollen Menschen über Menschen herrschen, sondern Gesetze.
Dann erschien Jesus Christus, nicht um das Gesetz zu brechen, sondern um es zu vollenden. Die Bergpredigt radikalisierte das Gesetz von Liebe und Gleichheit, versenkte es tief im Inneren der Menschen. Und forderte sie auf – das ist das Missions-gebot – dieses Gesetz in der ganzen Welt zur Geltung zu bringen.
Zur spirituellen Weltmacht wurde diese Religion eines kleinen Volkes am östlichen Mittelmeerrand erst, als sie sich mit der weltlichen Macht einließ, zur Staatsreligion des Römischen Imperiums wurde. Von nun an wurde sie nicht nur mit Worten, sondern auch mit Waffen verbreitet. Klöster waren nicht nur Orte der Meditation, der Gelehrsamkeit und der Caritas, sondern wirtschaftliche Unternehmungen; Bischöfe auch weltliche Machthaber, und Päpste die Konkurrenten der Könige. Die Kirche salbte die Herrschenden; sie linderte die schlimmsten Nöte und vertröstete die Armen und die Unterdrückten auf ein Jenseits. Theologen erfanden Himmel, Hölle und Fegefeuer, Künstler malten sie aus nach dem Modell irdischer Paläste und Folterkammern. Das Kreuz war das Banner, unter dem die Kreuzritter Kleinasien ausraubten, unter dem die Juden verfolgt, Lateinamerika mit Genoziden überzogen wurde. Christliches Erbe, das ist beides: die Religion der Machthaber und der Reichen, und die Religion der Gerechtigkeitsrebellen in Italien, der Wiedertäufer von Münster, der rebellierenden Bauern. Es gab – und es gibt – eine Theologie der Herrschenden, die den Armen sagte: Ertragt und harret aus, das Himmelreich wird Euer sein, und es gab eine Theologie, die den Himmel auf die Erde holen wollte.
Eines der schönsten Zeugnisse dieser Theologie ist die Utopie des kalabrischen Mönches Tomaso di Campanella aus dem frühen siebzehnten Jahrhundert, die Utopie vom Sonnenstaat. Wegen der Fortschritte der Technik müssen die Menschen an diesem Traumort nur noch vier Stunden am Tag arbeiten. Die erweiterte Grossfamilie übernimmt die Kinderbetreuung, die Alten dämmern nicht in Hospizen ihrem Ende entgegen. In dieser Bildungsrepublik lernen alle jungen Menschen in gut aus-gestatteten Schulen nicht die beruflichen und wissenschaftlichen Kenntnisse, sie werden in den Künsten ausgebildet, in der Fähigkeit zu Genuß und Muße, und in die Pflichten der Gemeinschaft eingeführt. Vor allem aber: eine Vielzahl von Religionen lebt friedlich und tolerant nebeneinander, unter dem geistigen Dach einer wissen-schaftlich fundierten Wertschätzung der Erde, unter der Herrschaft der Sonne.
Es ist eine Utopie, die nicht weit entfernt ist vom Ideal des säkularen und toleranten Sozialstaats unserer Tage, und auch nicht von den sozialkonservativen Phantasien in Michel Houellebecqs Roman – aber Campanellas Traum rief die Inquisition auf den Plan. Er kam zu früh.
Religionen sind der Glutkern oder das Herz der menschlichen Geschichte. Sie bieten Antworten an auf die menschliche Urangst vor dem Tod, auf die Fragen nach dem Sinn meiner Existenz, nach dem Woher und Wohin der Welt. Und, zumindest gilt dies für die drei abrahamitischen Religionen: in ihnen konzentriert sich die Sehnsucht nach einer gerechten Welt, sie sind, wie Karl Marx es sagte: „der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt; (sie sind) der Geist geistloser Zustände“ und sie fordern uns auf, diese Zustände zu überwinden, auch im Diesseits. Sie drängen auf das Absolute in einer Welt konfligierender Mächte, Gewalthaber und Interessen. Diese moralische Absolutheit ist ein Treibsatz des Zivilisationsprozesses gewesen, und sie gefährdet ihn zugleich. Die sozialen und politischen Ideen auch christlicher Denker befeuerten den Enthusiasmus der Französischen Revolution, die mehr sein wollte als nur eine französische, sondern Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Brot, Demokratie und Gemeinsinn für die ganze Welt-Republik forderte – und im Terror versank. Aber über Jahrhunderte loderten in Europa auch die Scheiterhaufen eines christlichen Fanatismus , wurde der Kampf um Territorien und Reichtümer von Priestern begleitet, die die Kanonen segneten und den Opfersinn predigten, aber auch die plündernden Bauernhorden marschierten unter dem Kreuz. Religionen sind moralische Kraft-quellen, aber ihr glühender Kern bedarf der Mäßigung.
Die größte zivilisatorische Leistung Europas ist deshalb nicht das Christentum – das wurde ihm geschenkt – sondern die Zähmung des religiösen Feuers im säkularen Rechtsstaat, und im Toleranzgebot – ein Prozess, der auch heute noch nicht abgeschlossen ist.
Aber diese Säkularisierung – aus der bitteren Erfahrung der Religionskriege erwachsen – ist nie ein für alle Mal gesichertes Kulturgut. In unseren Tagen erfahren wir, dass nicht nur die Terroristen von ISIS, sondern auch viele gläubige Muslime in den Ländern, die noch tief von Religion imprägniert sind, aber auch die Fundamentalisten in den USA, emotional nur schwer nachvollziehen können, warum Gottes Gebot nicht absolut und überall gelten soll: auch in der Familie, der Stadt, der Wirtschaft, dem Parlament.
Mit den weltumstürzenden Produktivkräften des industriellen Kapitalismus, den Europa entfesselte, wurden Wohlstand, Gleichheit und Freiheit für alle – die Verheissungen der Bibel und der säkularen Propheten – zur realen Möglichkeit. Aber nur in den christlichen Regionen des alten Europas und seines nordamerikanischen Ablegers ist eine solche Ordnung wirklich geworden, jedenfalls annähernd – der Rest der Welt lieferte den Rohstoff. Und auch in Europa schien erst nach den blutigen Kriegen des zwanzigsten Jahrunderts in Europa der Sieg der christlichen Soziallehre und ihrer säkularen Gestalten gesichert: der Sozialstaat, eine Errungenschaft, von der der Soziologe Pierre Bourdieu einst sagte, sie sei so unwahrscheinlich und so kostbar wie Kant, Beethoven oder Mozart.
Heute erleben wir diesen sozialen Staat in der Defensive – nicht gegen China, und nicht gegen Indien, sondern gegen das Totalwerden einer Religion, die so spirituell ist wie keine Thora und kein Platonismus: der Glaube an ein unendliches und ewiges Wachstum, an die unendliche Vermehrbarkeit der materiellen Güter, an die Stillung aller menschlichen Bedürfnisse durch Waren, an die Transformation jeder Zeit-Lücke in eine Marktlücke. Unter der Herrschaft dieses Gottes – wenn denn Gott die Kraft ist, die alles bewegt – werden Menschen zur flexiblen Ressource, Familien zu Fabriken für „Humankapital“, Nationen zu Wirtschafts-Standorten, kulturelle Traditionen zum ‚content’ der Unterhaltungsindustrien. Unter ihrer Gewalt schrumpft die Kraft der Politik – und die Menschen, die das spüren, retten sich und sorgen für ihre Nächsten, so gut sie das können – mit individualistischen Lösungen. Und darüber zerbröseln die gesellschaftlichen Bande.
Das Fatalste aber: Die Mentalität, die sich unter der Herrschaft dieser Religion aus-breitet, heißt: das ist nicht mehr zu wenden.
Woher also sollte eine solche Rückwendung – eine Re-Volution also – hin zu den alten Träumen Europas kommen? Wie kann Europa wieder zu „einer Seele kommen“? Der christliche Sozialist Jacques Delors hofft auf eine Renaissance der christlichen Religion. Und Michel Houellebecq schreibt: „Ohne das Christentum wären die europäischen Nationen nichts mehr als ein Körper ohne Seele – und experimentiert aus Verzweiflung über ein altegewordenes Christentum und die Erschöpfung der Metaphysik mit der Idee eines vitalen und menschenfreundlichen Islam.
Es ist wohl so: Die christliche Idee der Transzendenz, des Lebens nach dem Tode, hat über Jahrhunderte auch eine Kultur der Selbstbeschränkung und des sozialen Opfer-willens hervorgebracht, aber wenn sich im Massenbewußtsein die Idee festsetzt, nach dem Tod kommt nichts mehr, es gibt kein Jenseits, sondern nur dieses eine Leben, dann wächst der Wunsch, in der Frist, die ich habe, so viel zu leben, wie ich kriegen kann. Der Wachstums-zwang des Kapitals, die Angewiesenheit der eigentumslosen Massen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, und die säkularen Seelen, die den Verlust des Jenseitsglaubens mit Konsum kompensieren – zusammen treiben sie die Wachstumsmaschine an, die keiner konstruiert hat, und deren Gesetze doch tief in die Seelen des „abendländischen Aktivitätskommandos“ (Thomas Mann) eingebrannt sind.
Seit einiger Zeit versprechen sich selbst säkulare Denker von einer „Wiederkehr der Religion“ eine Stärkung der Widerstandskräfte gegen die „entgleisende Moderne“, gegen die „kommerzielle Reduktion der Menschenseele“, gegen den „herzlosen Kapitalismus“ und was dergleichen Formeln sind. Aber wie könnte eine solche Wieder-kehr aussehen? Wie könnte sie hinausgehen über die dutzende, ja hunderte von „Spiritualitäten“, die, wie immer in großen gesellschaftlicher Krisen, die Seelenpein und das Gefühl der metaphysichen Leere lindern: die indischen Weisheitslehren, die esoterischen Heilslehren, die Astrologie, die neoheidnischen Rituale. Sie alle mögen dem Einzelnen helfen, einen Sinn für sein Leben zu finden, und es ist billig, sie als Genußmetaphysik oder Ausmöblierung der Seelen zu verspotten.
Aber können wir uns vorstellen, dass es eine Renaissance des europäischen Christen-tums gibt, die gesellschaftsverändernde Kraft entwickelt? Die sich nicht nur mit warnenden Worten in die Politik einmischt, sondern den Konflikt mit ihr riskiert in den großen Zukunftsfragen? Das positive Echo auf die starken Worte des Papstes über die „mörderische Ordnung“ des Kapitalismus und die erbärmliche Flüchtlingspolitik der Europäischen Union, seine Popularität, aber auch die gereizten Reaktionen vieler Politiker – könnten sie nicht die Kirchen ermutigen, diesen Weg zu gehen?
Die Antwort auf diesen Wunsch lautet oft: die Kirche ist doch für alle da, für die Gerechten und die Ungerechten, für die Hitzigen und die Lauen, für die Großzügigen und die Gierigen, die Reichen und die Armen. Stimmt. Aber das hindert sie doch nicht, sichtbarer und lauter gegen Unrecht und Lauheit, gegen Unternehmungen, die die Erde zerstören, gegen Lauheit in den Parlamenten und Gier an den Finanzmärkten aktiv zu werden – vor allem aber: ihren Gläubigen in dieser Hinsicht etwas zuzumuten.
Religionen gehen aufs Ganze: sie verbinden uns mit dem Ganzen der Schöpfung und der Menschheit; und sie fordern uns auf, „ganz“ zu werden, so ganz, wie es die zerbrechliche Ordnung der Welt und das krumme Holz unserer Beschaffenheit erlauben. Sie fordern uns auf, an die Grenze unser Möglichkeiten zu gehen, unsere Handlungen und Überzeugungen zur Deckung zu bringen. Religionen sind Glutkern und Treibstoff unserer Zivilisation gewesen – warum könnten sie es nicht noch einmal sein. Aber diese Art religiös aufgeheizten sozialen Fundamentalismus sei nicht ungefährlich? Das könnte explosiv werden? Stimmt, aber auch Benzin ist explosiv, und doch verdünnen wir es nicht, sondern nutzen es für die Getriebe unserer Maschinen. Wie könnte das im Fall der Religion aussehen?
Ich stelle mir für einen Augenblick vor, Kirchen würden Schiffe ausrüsten, die im Mittelmeer kreuzen, mit Bischöfen an Bord. Ich stelle mir vor, 500 Quadratkilometer deutsches Kirchenland würden von nun an ausschließlich an Öko-Landwirte verpachtet. Ich stelle mir vor, es gäbe gegenüber Steuerbetrügern, Spekulanten und Gemeindemitgliedern, die den Mindestlohn kreativ umgehen, Unvereinbarkeits-beschlüsse. Ich stelle mir Gottesdienste auf den Feldern vor den Hühnerfabriken vor und hart an der Grenze der Bannmeile vor den Parlamenten, wenn dort laue Gesetze beraten werden. Das sind nur Beispiele, am Sonntagmorgen herbeiphantasiert. Und ich will, um Gottes willen, nicht die Trennung von staatlicher Ordnung und religiöser Radikalität in Frage stellen, aber ich wünschte mir, dass die weltliche und die geist-liche Macht – wie es früher hiess – in ein Verhältnis kämpferischer, ja konfrontativer Kooperation geraten, zum Wohle der Menschen.
Eine radikal und autoritativ bekennende und agierende Kirche könnte uns davor bewahren, dass die Leidenschaften der Leidenden aus dem Süden der Welt oder aus unseren abgehängten Landschaften zu stark werden, oder dass der Überdruss in unseren Seelen zum Überdruck wird und das öffentliche Leben erstickt oder zur Explosion bringt. Sie wäre höchstwahrscheinlich populär und könnte uns vor dem reaktionären Populismus bewahren, ob er nun aus den unaufgeklärten Milieus der Modernitätsverweigerer kommt oder aus den Moscheen. Und schließlich käme mit einer solchen christlichen Renaissance das universelle Missionsgebot, das viele Jahrhunderte lang die imperialistische und kolonialistische Eroberung der nicht-europäischen Welt begleitet hat, zu einem guten Ende – sie wäre ein Beitrag zur Versöhnung Europas mit den Weltregionen, die lange unter ihm gelitten haben, denen es über Jahrhunderte seinen Reichtum verdankte, und von denen es sich heute bedroht fühlt.
Die Erwartung, eine solche Renaissance könne stattfinden, sei romantisch und unrealistisch? Stimmt wohl. Aber, wie gesagt, es ist Sonntagmorgen, und tief in meinem säkularisierten Konfirmandenhirn steckt immer noch der Satz „Die Lauen spuckt der Herr aus.“ Auch dieser Satz sitzt tief in unserem kulturellen Gedächtnis – selbst wenn er uns überfordert.
Zum Autor:
Mathias Greffrath, Soziologe und Autor; schreibt u.a. Essays für den Norddeutschen Rundfunk, Zeit und Süddeutsche Zeitung, die deutsche Ausgabe von le monde diplomatique
Redaktion: Florian Breitmeier
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3. Mai 2015