UNERWARTETES AM RANDE
Taizé, 6. Juli 2012
Ich bin wieder in Taizé. Über lange Zeit ist Taizé in Frankreich für mich zu einer „Oase“ geworden. Vor 46 Jahren fuhr ich erstmals mit Jugendlichen in dieses Dorf im burgundischen Land. Ich kann in dieser Oase immer wieder neu mein Leben betrachten und erhalte aus Stille, Gebet und Begegnung Anstöße.
‚Ich hab‘ etwas vor!‘, so sprechen wir manchmal. Wir sind auf dem Wege, Ziel gerichtet. Eine Idee, ein Vorhaben treiben uns. Nichts soll uns aufhalten. Wir schauen nicht nach links, nicht nach rechts – nur geradeaus sind Blick und Schritte ausgerichtet. Dann geschieht etwas – am Rande, eigentlich ausgeblendet. Vom Rand her gibt es eine Unterbrechung, störend. Eben noch auf das Ziel ausgerichtet, wird die Aufmerksamkeit zwangsläufig an den Rand gelenkt. Dort ereignet sich etwas. Vielleicht eine überraschende Begegnung mit einem Menschen, unerwartet? Vielleicht auch nur ein Gedanke, der zum Vorhaben gar nicht zu passen scheint? Ausweichen ist die Reaktion. Nicht hinsehen, nicht hinhören. Das Störende ausblenden. Jetzt nicht! Vielleicht ein anderes Mal! Sollen sich doch andere darum kümmern. Das ist jetzt nicht meine Sache! Ich habe etwas vor! Ich will nicht zu spät kommen! Alle getroffenen Vorbereitungen sind dann umsonst. Aber dort ‚am Rande‘ wird es lauter. Das Ausweichen will einfach nicht gelingen. Doch stehen bleiben? Doch den Weg unterbrechen? Ihr werdet diese Erfahrung kennen – die Verlangsamung der Geschwindigkeit – mehrere ‚Gänge herunterschalten‘ müssen! Der situative Hintergrund dieser Erzählung ist es, der diese Gedanken frei setzt und die mich und andere hier in Taizé nach einer ‚Bibel-Einführung‘ beschäftigen.
46 Sie kamen nach Jericho. Als er mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho wieder verließ, saß an der Straße ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus. 47 Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! 48 Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! 49 Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. 50 Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu. 51 Und Jesus fragte ihn: Was soll ich dir tun? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können. 52 Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dir geholfen. Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg. Markus-Evangelium 10,46-52
Zielgerichtet ist Jesus mit seinen Jüngern unterwegs nach Jerusalem. Ihr Weg führt sie durch Jericho, diese pulsierenden Handelsstadt in der Wüste. Ihre Aufmerksamkeit allerdings gilt nur diesem Ziel: Jerusalem! Dann die Störung. Vom Rand her. Das passt jetzt überhaupt nicht! ‚Halt die Klappe‘ wird gedacht und dann auch gesagt. Jesus bleibt stehen. Er unterbricht sich. Er unterbricht für das, was am Rande geschieht. Er nimmt die eben noch die ‚Störung‘ Abwehrenden in den Prozess des Innehaltens hinein: Ruft ihn her! Damit sind auch sie unterbrochen und es geschieht eine ‚Verwandlung‘: Im Aufmerksamwerden für eine Randerscheinung kommt es zu einer wesentlichen Veränderung. Was jetzt anders wichtig ist, rückt in den Fokus!
Aufmerksamkeit für das ‚Randständige‘
Die ’störenden‘ Signale vom Rande sind plötzlich von der ‚Mitte‘ her berührt. Das ‚Störende‘ offenbart die in allen verborgene Sehnsucht, indem es eine Antwort bekommt: ‚Steh auf! Kehre ein in deine Mitte und erkenne!‘ Eine plötzlich sehr ’sinnvolle‘ Unterbrechung! In welcher Ziel-Orientierung auch immer – unsere gesellschaftliche Situation kennt die mannigfachen ‚Störungen vom Rand‘. Sie als ‚Signale eigener Bedürftigkeit‘ erkennen, macht die sinnvolle Unterbrechung gradliniger Geschwindigkeit aus. ‚Gott‘ befördert den ‚Rand meiner Existenz‘ in die Mitte der Orientierung. Also, bleibe ich stehen und nehme ‚Störungen‘ als möglichen Impuls eigener Veränderung wahr! Der aktuelle Aufschrei angesichts fragwürdiger Wachstums- und Finanzierungsstrategien ist auch ‚Aufschrei eigener Bedürftigkeit‘! Sich diesem Aufschrei stellen, dient eben auch der Hellhörigkeit für eigene, vielleicht verborgene Bedürfnisse nach Wertschätzung und Achtung … Unter dem Thema ‚Vertrauen schaffen unter den Menschen‘, schreibt Frère Alois, Prior der Gemeinschaft von Taizé: ‚Angesichts der Armut und der Ungerechtigkeiten revoltieren manche oder sind sogar versucht, blinde Gewalt anzuwenden. Gewalt kann kein Mittel sein, die Gesellschaft zu verändern. Hören wir dennoch den Jugendlichen zu, wie sie ihre Empörung äußern, um zu begreifen, was sie wirklich bewegt‘. Aus ‚Auf dem Weg zu einer neuen Solidarität‘ / Brief 2012. Wer den ganzen Brief lesen möchte: www.taize.fr/de_article13240.html Ich wünsche Euch bewegende Erlebnisse am ‚Rande‘ und grüße Euch herzlich!
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