Schuld und Vergebung
Ein Blick, der mich trifft! Ist das meine Sache?
Christen vertiefen sich in dieser Zeit vor Ostern – in der so genannten „Passions-Zeit“ – in das Leiden Jesu.
Aus der Sicht der betrachtenden Menschen berühren die Geschichten des Leidens die Frage nach Schuld und Vergebung in besonderer Weise. Schuld und Vergebung sind zentrale Themen unseres Lebens. Unbewältigte Schuld und nicht erfolgte Entlastung sind häufig Grund für psycho-soziale Störungen.
Ich habe drei Textstellen aus den Leidens-Berichten der Evangelisten herausgesucht. Ich schließe Betrachtungen und Anstöße zu diesem zentralen Thema unseres Lebens an.
DIE TEXTE
Da wandte sich der Herr um und blickte Petrus an. Und Petrus erinnerte sich an das, was der Herr zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte bitterlich.
Lukas22,61+62
Als Pilatus sah, dass er nichts erreichte, sondern dass der Tumult immer größer wurde, ließ er Wasser bringen, wusch sich vor allen Leuten die Hände und sagte: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen. Das ist eure Sache!
Matthäus 27,24
Sie kamen zur Schädelhöhe; dort kreuzigten sie ihn und die Verbrecher, den einen rechts von ihm, den andern links. Jesus aber betete: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Lukas 23,33+34
Zerfleischende Schuld-Gefühle
Wir müssen uns vor zwei Tendenzen hüten: Vor dem Beschuldigen und vor dem Entschuldigen. Wenn wir uns selbst beschuldigen, zerfleischen wir uns mit Schuldgefühlen und bestrafen uns damit selbst. Wir dramatisieren unsere Schuld. Dadurch fehlt uns die Distanz zur eigenen Schuld. Wir gehen nicht wirklich mit der Schuld um, sondern lassen uns von ihr beherrschen und nach unten ziehen.
Diese Selbstentwertung ist häufig unrealistisch; sie entspricht nicht der Wirklichkeit. Sie verhindert daher eine ehrliche Selbstkritik und Selbstverantwortung. Man verurteilt sich in Bausch und Bogen und meidet ein tatsächliches Hinsehen auf die Sachverhalte.
Oft ist diese Selbstbeschuldigung nur die Kehrseite des Stolzes. Im Grunde möchte man besser sein als die anderen und sich über sie erheben. Aber dann kommt die Stimme des eigenen ‚Über-Ichs‘, die das verbietet. Und so bestraft man seine Versuchung zur Selbsterhöhung.
Anselm Grün
Keine Reifung ohne Schuld
Ohne Schuld gibt es keine Reifung. Ohne Schuld- Erkenntnis, ohne Schuld-Bekenntnis und Vergebung gibt es keine Veränderung. Allerdings ist der Weg durch die persönlichen Hemmungen hindurch ein schwerer bis hin zu der Stunde des Erkennens.
In der Beichte („Be-Ichten“ = Zu seinem Ich stehen) geht es darum, dass ein Mensch seine Erkenntnis ausspricht und bekennt, was ihn im Augenblick an Schuld beschwert oder bedrückt. Zur Bewältigung meiner Schuld gehört es, dass ich mir über meinen Zustand keine Illusionen mache, dass ich aufhöre, mir Sündenböcke zu suchen, und anfange, mir den Spiegel vorzuhalten. Es kann sein, dass ich zunächst erschrecke. Ich muss aber zugeben, dass ich es bin.
Vom ‚Ein‘-Blick zum ‚Aus‘-Blick
Ich muss mich mit meiner Schuld auseinandersetzen, das heißt, dass ich nicht nur mein Erbe und mein Milieu anklage und mich damit ‚entschuldige‘, sondern dass ich anfange, mich verantwortlich zu fühlen für das, was ich heute bin.
Schuldhaftes Verhalten ist nicht die Schuld an sich.
Der Begriff „Schuld“ wird begreifbarer, wenn er durch den Begriff ‚Verrat‘ ersetzt wird. Aus dem Verrat des ‚So-bin-ich-gemeint‘, meiner Ursprünglichkeit, meiner Ganzheit erwächst das ’schuldhafte Verhalten‘. Der Verlust der ‚Mitte‘ öffnet dem ‚Verrat‘ die Tür. Das konkret gestaltete Leben steht dann im Widerspruch zur innersten Authentizität.
Beispiel „Jesus“
Jesus lebte aus solcher ganzheitlichen Mitte. Er beschrieb sie so: Ich und der Vater sind eins. Er hat sich nie ‚verraten‘, er blieb sich treu und so ‚fand auch niemand Schuld an ihm‘. Aus dieser Mitte konnte er mit den Schuldigen solidarisch sein, sie ‚ansehen‘, ihnen vergeben. Christen glauben daran, dass sie – mit dieser von Jesus gezeigten Gottes-Kraft verbunden – den Weg von der Abhängigkeit durch Schuld zur Freiheit durch Vergebung gehen können.
Vergebung ist ein Prozess.
Voraussetzung für Vergebung ist, ‚die erlittenen Wunden aufeinander zu legen‘, die durch den Verrat entstanden sind. Eine Frau aus Ruanda, Eugénie, die dem Mörder ihrer Mutter, ihrem früheren Nachbarn Nsanganira aus dem Stamm der Tutu begegnet, lese ich dieses: ‚Das Wort für ‚Vergebung‘ in unserer Sprache Kinyarwanda bedeutet so viel wie ‚miteinander weinen‘, sagt Eugénie. ‚Der Täter weint über seine Tat, das Opfer über seinen Verlust. Und weil sie es gemeinsam tun, kann Vergebung geschehen.
Aus Publik-Forum 4/04
Tränen machen Wesentliches sichtbar
Für einen solchen Prozess kann dieses ‚Wort-Spiel‘ eine Hilfe sein …
V erständnis zeigen
E igenarten des anderen sehen
R ücksicht nehmen
G ut sein
E ntlasten können
B edingungen aufgeben
U mdenken können
N eu anfangen wollen
G eduld miteinander haben
Es braucht Zeit, mich der Vergebung zu vergewissern, damit sie in die Tiefe meiner Seele reicht. Sie ist auch ein Prozess in mir selbst. Es gibt Situationen, in denen ich mir selbst vergeben muss. Das bedeutet, dass das anklagende ‚Über-Ich‘ und das verletzte ‚Kind-Ich‘ in mir ‚weinen‘ dürfen und zu einem Neubeginn finden.
So kann sich sich die Haltung der eigenen Schuld und der erlebten Verletzung gegenüber verändern und helfen, das Leben selbst bestimmt und verantwortungsbewusst in die Hand zu nehmen. Vergebung heißt: Seine wahre Identität zurückgewinnen!
WIE EINE ERLÖSUNG
….Dann aber leuchtete sein Gesicht plötzlich auf und er fragte: „Wissen Sie, was das hier“ – er zeigte auf seine Brust – „bedeutet, dieses U?“ Ich sagte, ja natürlich: Ungar. „Nein, erwiderte er, „Unschuldig“, dann hat er auf eine bestimmte Art kurz gelacht und danach noch lange mit sinnender Miene genickt, so als sei dieser Gedanke für ihn besonders wohltuend, ich weiß auch nicht, warum.
Und genau das gleiche sah ich dann bei den andern im Lager, von denen ich, anfänglich ziemlich oft, diesen Witz auch noch hörte: Als schöpften sie daraus irgendein wärmendes, Kraft spendendes Gefühl – darauf zumindest verwies das immer gleiche Lachen, die immer gleiche Gelöstheit in den Gesichtern, dieser schmerzlich lächelnde und doch auch irgendwie entzückte Ausdruck, mit dem sie den Witz jedes Mal erzählten oder anhörten, irgendwie so, wie wenn man eine sehr zu Herzen gehende Musik oder eine besonders bewegende Geschichte vernimmt.
Imre Kertecz, „Roman eines Schicksallosen“ – seine eigenen Erfahrungen in Auschwitz.
Mit dem Titel „fateless“ wurde dieses Buch inzwischen verfilmt. Das Drehbuch hat der Autor selbst geschrieben. Ein bewegendes und dichtes Dokument von der Hoffnung in Ausweglosigkeit!