STAUNEN
Diese Zeit macht mich hellhörig und hellsichtig. Alles befindet sich wie auf einem Prüfstand. Was taugt noch für die Zukunft? Was ist aufzugeben, weil es Entwicklung hindert? Prioritäten sind verschoben. Was wichtig war, verliert seine Bedeutung.
Der wenig erfüllte Blick nach außen ist irritiert. Wo findet er Halt und Orientierung? Das Außen ist wie nach einem Erdbeben nicht verlässlich. Es gibt keinen Weg in die vertrauten Behausungen. Die Wege scheinen verschüttet und versperren den Zugang.
Zugang? Ich erinnere mich an einen Ausspruch von Augustinus:
Die Menschen machen weite Reisen, um zu staunen über die hohen Berge, über die riesigen Wellen des Meeres, über die Länge der Flüsse, über die Weite des Ozeans und über die Kreisbewegung der Sterne. An sich selbst aber gehen sie vorbei, ohne zu staunen.
Staunen angesichts der Verunsicherungen und verschütteten Zugänge? Staunen bei ängstlichem Hoffen auf eine Lösung von außen? Staunen angesichts der absurden Suche nach den Schuldigen? Staunen angesichts der Verschwörungstheorien um wenigstens einen Zugang in Handlungsmöglichkeit zu erhalten und die skrupellosen Verursacher zu erwischen, sie erfolgreich zu bekämpfen? Die Aufforderung zum Staunen gerät erneut in die Sackgasse der Verschüttungen.
Ich verlasse dieses Szenario und schaue mir ein altes Staunen an, das mir eben in den Sinn kommt.
13 Denn du hast mein Inneres geschaffen,
mich gewoben im Schoß meiner Mutter.
14 Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast.
Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke.
15 Als ich geformt wurde im Dunkeln,
kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde,
waren meine Glieder dir nicht verborgen.
16 Deine Augen sahen, wie ich entstand,
in deinem Buch war schon alles verzeichnet;
meine Tage waren schon gebildet,
als noch keiner von ihnen da war.
17 Wie schwierig sind für mich, o Gott, deine Gedanken,
wie gewaltig ist ihre Zahl!
18 Wollte ich sie zählen, es wären mehr als der Sand.
Aus Psalm 139
Ich erkenne: Staunen braucht einen Adressaten! So entwickelt sich Reifung!