Wenn es Wirklichkeitssinn gibt,
muss es auch Möglichkeitssinn geben …
Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muss man die Tatsache achten, dass sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz, nach dem der alte Professor immer gelebt hatte, ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.
Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er:
Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was eben so gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.
Man sieht, dass die Folgen solcher schöpferischen Anlage bemerkenswert sein können, und bedauerlicherweise lassen sie nicht selten das, was die Menschen bewundern, falsch erscheinen und das, was sie verbieten, als erlaubt oder wohl auch beides als gleichgültig. Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler.
Wenn man sie loben will, nennt man diese Narren auch Idealisten, aber offenbar ist mit alledem nur ihre schwache Spielart erfasst, welche die Wirklichkeit nicht begreifen kann oder ihr wehleidig ausweicht, wo also das Fehlen des Wirklichkeitssinns wirklich einen Mangel bedeutet.
Das Mögliche umfasst jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes. Ein mögliches Erlebnis oder eine mögliche Wahrheit sind nicht gleich wirklichem Erlebnis und wirklicher Wahrheit weniger dem Werte des Wirklichseins, sondern sie haben, wenigstens nach Ansicht ihrer Anhänger, etwas sehr Göttliches in sich, ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewussten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt.
Aus: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (1943). Erstes Buch – Kapitel 5
In einer Andacht zum Morgen hörte ich von einer ganz konkreten Umsetzung dieses Möglichkeitsinns‘. Für den müsse man um die Ecke denken müsse und es brauche Zeit, das als sinnvoll zu erkennen, was zunächst unmöglich erscheine.
Als Beispiel wurde der biografische Moment erwähnt, als Jesus sich von Johannes taufen lässt. Nach seiner Vision einer ‚Beauftragung‘ zieht sich dieser Jesus zurück. Er ist irritiert, wählt den Abstand in der Wüste, schon immer Ort der Orientierung und des Gebetes.
Vierzig Tage weiß niemand, wo er geblieben ist. Das sind sechs Wochen. Auf dieser ‚Orientierungsreise‘ bildet sich in Jesus der Sinn für das, was möglich ist.
Die inneren Auseinandersetzungen zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit sind existenziell verführerisch und bedrohlich. Der Text berichtet davon in eindrücklichen Bildern. Dann taucht er im wahrsten Sinne des Wortes auf und redet. Er spricht über seine innere Wirklichkeit, herausgebildet in der gewählten Quarantäne und sie jetzt konkret zu leben und umzusetzen. In einer großen Freiheit, weil getragen und durchdrungen von der Präsenz Gottes in ihm.
Alle Erzählungen von seiner nur drei Jahre währenden Zeit, um zu reden und zu handeln, beschreiben die Konfrontation von Wirklichkeit und Möglichkeit. Unglaublich manchmal und dennoch überzeugend wahr!
Der Text
Danach führte der Geist Gottes Jesus in die Wüste, wo er vom Teufel auf die Probe gestellt werden sollte. Nachdem er vierzig Tage und Nächte gefastet hatte, war er hungrig.
Da trat der Versucher an ihn heran und sagte: »Wenn du Gottes Sohn bist, dann befiehl doch, dass die Steine hier zu Brot werden!« Jesus antwortete: »In den Heiligen Schriften steht: ‚Der Mensch lebt nicht nur von Brot; er lebt von jedem Wort, das Gott spricht.’«
Darauf führte der Teufel ihn in die heilige Stadt Jerusalem, stellte ihn auf den höchsten Punkt des Tempels und sagte: »Wenn du Gottes Sohn bist, dann spring doch hinunter; denn in den Heiligen Schriften steht: ‚Deinetwegen wird Gott seine Engel schicken, und sie werden dich auf Händen tragen, damit du dich an keinem Stein stößt.’« Jesus antwortete: »In den Heiligen Schriften heißt es auch: ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht herausfordern.’«
Zuletzt führte der Teufel Jesus auf einen sehr hohen Berg, zeigte ihm alle Reiche der Welt in ihrer Größe und Pracht und sagte: »Dies alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest.« Da sagte Jesus: »Weg mit dir, Satan! In den Heiligen Schriften heißt es: ‚Vor dem Herrn, deinem Gott, wirf dich nieder, ihn sollst du anbeten und niemand sonst.’« Darauf ließ der Teufel von Jesus ab, und Engel kamen und versorgten ihn.
Matthäus 4,1-11